Andreas Harms, Redakteur bei Pfefferminzia: „Das Erdgas ist ja nicht verschwunden“ © Pfefferminzia
  • Von Andreas Harms
  • 29.04.2022 um 11:58
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Inflation wird immer schlimmer? Nein, auf der Suche nach Schlagzeilen versteigen sich manche Kommentatoren in allzu großer Dramatik. Weshalb unser Kommentator Andreas Harms dem einfach mal was entgegensetzen will, zum Beispiel ein paar Zahlen.

Man kann wirklich nicht von mir behaupten, ich würde die aktuelle Situation locker sehen. Ich sehe keinen Anlass, irgendwas zu beschönigen. Ich frage mich, wie wir im nächsten Winter heizen wollen. Die Preise steigen so stark wie seit über 40 Jahren nicht mehr, und die sogenannten Währungshüter von der Europäischen Zentralbank tun nichts dagegen. Russland droht, uns den Gashahn zuzudrehen, womit sogar eine Stagflation – eine giftige Mischung aus Rezession und Inflation – hereinbrechen könnte. So weit, so frustrierend.

Das hinterlässt jedoch in einigen Medien inzwischen unschöne Spuren. So schrei(b)t der Börsenjournalist Hermann Kutzer die mir ins Auge springende Schlagzeile „Die Inflation wird immer schlimmer“ und verweist darauf, dass die Inflationsrate in Deutschland im April wohl bei 7,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr liegt. Zumindest schätzt das das Statistische Bundesamt.

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Das stimmt zwar. Trotzdem bekomme ich das Gefühl, solchen Schlagzeilen jetzt mal etwas entgegensetzen zu müssen. Da wäre zunächst einfach nur die Tatsache, dass es das Wort „immer“ in der Wirtschaft im Grunde gar nicht gibt. Nichts ist immer, Dinge ändern sich. Und das gilt auch für die Inflation.

Der zweite Punkt ist der Umstand, dass 7,4 Prozent nach 7,3 Prozent natürlich happig klingen. Doch das ist nur Resultat desselben Preisschubs an den Rohstoffmärkten, der schon die Zahl vom März so hochgehoben hatte. Wir sind auf einem deutlich höheren Niveau als vor einem Jahr. Schon klar. Aber die Preise steigen jetzt eben nicht jeden Monat um über 7 Prozent, obwohl es manchmal so klingt.

Stattdessen stiegen die Preise im April sogar wieder langsamer. Im März hatten sie noch gegenüber Februar um 2,5 Prozent zugelegt, das war der große Schock. Im April gegenüber März sind es 0,8 Prozent. Ist immer noch nicht gerade wenig, kam aber auch in der seligen Preiswelt der Zehner- und Nullerjahre durchaus vor. Zum Beispiel im Mai 2018 oder jeweils im Dezember 2005 und 2006.

Sicherlich wittern jetzt einige Unternehmen Morgenluft und ziehen nach einigen dünnen Jahren ungeniert ihre Margen mal ordentlich hoch. Ist ja alles teurer geworden, ja nee, schon klar. Auch Gehaltsgespräche dürften für Arbeitgeber knifflig werden, was wiederum Zweitrundeneffekte auslösen kann. Doch zum großen, wenn nicht sogar größten Teil steht und fällt die kommende Inflation damit, was die Rohstoffpreise machen. Und da bin ich nicht so pessimistisch unterwegs wie manch anderer. Rohstoffpreise können nicht ewig in so einem Tempo steigen, sondern nur so lange, wie man sie noch bezahlen kann und wie das Zeug knapp ist.

Grund 1: das Gleichgewicht

Wird ein Gut knapp (oder droht es knapp zu werden), steigt der Preis. Das haben wir beim Erdgas und Erdöl gesehen. Doch im Gegenzug sinkt mit steigendem Preis wiederum die Nachfrage, teils aus Vernunft, teils notgedrungen aus Geldmangel. Und was sehen wir? Schon jetzt senken Schwimmbäder ihre Wassertemperaturen (man kann auch bei 23 Grad sehr gut trainieren), überlegen sich Menschen, welche Zimmer sie wie warm heizen, und tüftelt die Industrie an Sparmaßnahmen. Nicht zu vergessen der jetzt endlich in Gang kommende Schwenk zu erneuerbaren Energien. Was wir in den vergangenen Jahren alles an Biogas verschenkt haben! Und vielleicht kaufen die Deutschen sogar mal wieder sparsame Autos. Das wäre mal was.

Grund 2: das Angebot

Nur weil Europa russisches Gas und Öl nicht mehr kaufen will, ist es deshalb nicht verschwunden (es sei denn, Russland fördert nichts mehr). Es wird über andere Wege auf den internationalen Markt finden, der Energiemarkt sortiert sich neu. Klar, sucht Russland nun neue Kunden um die Nachfrage zu ersetzen, schließlich braucht es Geld. Aber geht das auch?

China hat 2021 knapp 16 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland importiert. Das sind 10 Prozent seiner Gesamteinfuhr, die damit bei rund 160 Milliarden Kubikmetern liegt. Die europäischen OECD-Mitglieder indes haben Russland 2021 satte 186 Milliarden Kubikmeter abgekauft (Quelle: U.S. Energy Information Administration, umgerechnet von mir). Diese Nachfrage kann China nicht von heute auf morgen ersetzen, selbst wenn sein Energiehunger weiter so kräftig wächst. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass auch China seine Erneuerbaren ausbaut.

Und wenn China das doch kauft, dann nicht zusätzlich, sondern indem es andere Lieferanten abblitzen lässt. Hauptlieferanten für Erdgas nach China sind noch vor Russland Australien und Turkmenistan. Die würden dann auf dem Erdgas sitzen bleiben – und es sicherlich auf dem Weltmarkt feilbieten.

Ich bin mir dessen bewusst, dass auch meine Argumente nicht vollständig sind. Es sind Gedankenanstöße, schließlich ist die Lage wahnsinnig komplex. Und es ist auch unklar, wie die diesjährige Ernte in der Ukraine ausfällt und wie Europas Land- und Viehwirtschaft darauf reagiert (das meiste wird schließlich immer noch verfüttert). Aber Öl- und Gaspreise bewegen sich seit einigen Wochen seitwärts und steigen zumindest nicht weiter.

Das werte ich mal als Zeichen.

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Andreas Harms

Andreas Harms schreibt seit 2005 als Journalist über Themen aus der Finanzwelt. Seit Januar 2022 ist er Redakteur bei der Pfefferminzia Medien GmbH.

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