Marktbeobachter und Blogger Stephan von Heymann: „Das ist kein Fortschritt, das ist ein Witz!“ © privat
  • Von Redaktion
  • 30.09.2025 um 08:01
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Kommt die Versicherungsbranche in puncto Digitaltechnik wirklich voran? Branchenbeobachter Stephan von Heymann hat da so seine Zweifel. In seinem Gastbeitrag begründet er, wo er derzeit Scheinlösungen erkennt und was stattdessen besser wäre. Und er vergleicht BIPRO mit Schrauben.

Die Gründe für diese Misere sind nicht schwer zu finden: jahrzehntealte IT-Systeme, aufeinandergetürmt durch Fusionen, Migrationen und Kompromisse. Gerade große Versicherer schleppen gewaltige Altlasten mit sich herum, die jede echte Digitalisierung zu einem Marathonlauf machen. Je größer das Haus, desto größer die Altlasten.

Und mittendrin stehen die Vermittler. Sie müssen mit den Folgen dieses Wildwuchses umgehen. Hier kommen die Softwarehäuser ins Spiel, die Maklerverwaltungsprogramme anbieten. Natürlich helfen diese Programme, das Chaos zu beherrschen. Sie werben sogar damit, den Vermittler dabei zu unterstützen, analoge und scheindigitale Daten besser zu organisieren.

Aber seien wir ehrlich: Das ist Symptombekämpfung. Es mag die Arbeit erträglicher machen, doch es ändert nichts an der eigentlichen Ursache. Und diese Ursache liegt selten beim Vermittler, sondern fast immer beim Produktgeber.

Ein weiteres Beispiel für die Scheindigitalisierung sind die Vergleichsrechner. Längst nicht alle Anträge, die dort eingereicht werden, laufen auch wirklich „dunkel“ durch. Fragen Sie doch einmal Ihren Vergleichsanbieter – oder rufen Sie direkt bei den Hotlines von Softfair, Mr-Money, Thinksurance & Co. an! Sie werden ernüchtert sein, wie viele Versicherer noch heute ausdrücklich wünschen, dass die aus dem Vergleichsprozess resultierenden Anträge als PDF-Datei per E-Mail angeliefert werden.

Warum? Weil sie die passenden Schnittstellen für eine echte Dunkelverarbeitung schlicht nicht bereitstellen können. Gerade im Gewerbebereich ist das fast eher die Regel als die Ausnahme. Die Versicherer erhalten also nicht etwa digitale Datensätze, die automatisiert verarbeitet werden können, sondern PDF-Deckungsnoten. Diese müssen dann entweder über teure OCR-Verfahren maschinell ausgelesen – oder nicht selten sogar von Hand ins System abgetippt werden. Ganz ehrlich: Das ist kein Fortschritt, das ist ein Witz!

In anderen Branchen läuft es

Besonders deutlich wird die Absurdität im Vergleich zu anderen Branchen. Fragen Sie sich: Wann hat Ihnen Ihr Reisebüro oder Ihr Online-Reise-Portal zuletzt einen Papierkatalog oder einen PDF-Fragebogen geschickt? Richtig, das ist lange her. Dort ist die Digitalisierung längst konsequent umgesetzt. Buchung, Bezahlung, Bestätigung – alles läuft digital, ohne Medienbruch.

Die Versicherungswirtschaft hingegen spricht seit über 30 Jahren vom papierlosen Büro – und verschickt trotzdem weiterhin Kartons voller Dokumente. Digitalisierung wird mantraartig auf jeder Konferenz beschworen, doch der tatsächliche Stand der Umsetzung wirkt angesichts des dafür aufgewendeten Zeitraums schlicht lächerlich.

Solange wir analoge Medien nur „scheindigitalisieren“, verschwenden wir Zeit, Geld und Ressourcen. Digitalisierung bedeutet nicht, einen Scanner anzuwerfen oder PDFs und Excel-Listen in ein Portal zu stellen. Digitalisierung bedeutet, Daten von Anfang an digital zu erfassen, Normen konsequent einzuhalten und Prozesse wirklich von Anfang bis Ende digital abzuwickeln.

Es bedeutet gleichermaßen, Prozesse bis zu Ende zu denken und durchgängige Systeme zu schaffen, und es bedeutet auch, in der Not nicht der Versuchung nachzugeben, unausgereifte Insellösungen einzuführen. Dazu gehört dann letztendlich auch der Mut, alte Zöpfe abzuschneiden, statt sie endlos weiter zu flechten.

Wer weiterhin PDFs ausfüllt, ausdruckt, scannt oder schlicht in Portalen sammelt, arbeitet nicht digital. Er spielt Digitalisierung in einem viel zu großen Sandkasten ohne die passenden Förmchen. Und irgendwann wird sich die Branche fragen müssen, wie lange sie sich diesen Placebo-Fortschritt noch leisten will.

Über den Autor:

Stephan von Heymann ist Spezialist für private Kompositversicherungen und die gewerbliche Haftpflichtversicherung. Als Branchenbeobachter schreibt er außerdem regelmäßig zu aktuellen Themen der Versicherungsbranche unter Sachthemen.blog.

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