- Von Oliver Lepold
- 30.09.2025 um 09:34
Ich kannte Alois nicht gut. Der Cousin meines Vaters wohnte zwar in unserer Straße, galt aber als Einsiedler. Ich wusste, dass er sehr gläubig ist (er ließ eine Madonna auf den Putz seines Hauses malen) und gern für die alte Heimat im früheren Jugoslawien spendete. Meine Familie väterlicherseits besteht aus Donauschwaben, die nach dem 2. Weltkrieg aus der Vojvodina nach Deutschland einwanderten.
Als Alois vor vier Jahren 88-jährig unverheiratet und ohne Nachkommen starb, erhielt ich, genau wie meine Schwester und meine Tanten ein Schreiben vom Amtsgericht unserer süddeutschen Kreisstadt. Darin stand, dass es keine direkten Nachkommen gibt und auch sein Bruder bereits ohne Nachkommen verstorben war. Daher werde die Erbzuteilung in dritter Ordnung erfolgen. Das bedeutet: Die Abkömmlinge der Großeltern des Erblassers erben, also Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen des Verstorbenen. Wir wurden aufgefordert, entsprechende Dokumente als Nachweis für unsere Abstammung einzureichen.
Erben dritter Ordnung: Abkömmlinge der Großeltern
Meine Tante kam allein für die mütterliche Seite von Alois (seine Mutter war die Schwester meines Großvaters) auf elf Cousins, Cousinen und deren Nachkommen. Die väterliche Seite war vollends unübersichtlich, Alois Vater hatte 14 Geschwister, viele mit zahlreichen Kindern. Zu erben gibt es ein Haus mit Garten aus den 50er-Jahren in renovierungsbedürftigem Zustand, in dem eine Wohnung vermietet war und ein Investmentdepot. Wert rund 700.000 Euro.
Alle Erben dritter Ordnung müssen ihre Abstammung von den Großeltern nachweisen. Wir stöberten also nach Geburts- und Heiratsurkunden, aus der Zeit vor 1945 hatte ich jedoch nichts vorliegen. Ich sprach mit dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen und ließ mir Auszüge aus Sippenbüchern schicken, die auf Abschriften von Kirchenbüchern beruhten. Meine Tante fand nach langem Suchen die Heiratsurkunde meiner Großeltern in der Vojvodina von 1936. Nach mehr als einem Jahr erhielten wir vom Amtsgericht eine Liste mit 38 Erben in fünf Ländern auf drei Kontinenten! Wie sich herausstellte waren auf der väterlichen Seite von Alois etliche nach Australien ausgewandert, während auf der mütterlichen Seite eine Cousine nach Kanada gezogen war.

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Viele Abstammungsnachweise fehlen
Laut Amtsgericht beträgt der Erbanteil meiner Schwester und mir jeweils 2,667 Prozent. Damit dürften wir noch knapp im steuerfreien Freibetrag für sonstige Angehörige (20.000 Euro) liegen. Das Problem: Für drei vor 1900 in der Vojvodina geborene Tanten von Alois gab es keine Informationen. Das Amtsgericht rief daher per Veröffentlichung freie Erbenermittler zur Mitarbeit auf. Und prompt fand ein solcher Erbenermittler weitere 19 Miterben dritter Ordnung in Deutschland und Österreich. Er wird je nach Vereinbarung aus dem Erbanteil dieser Erben bezahlt. Für diese neu gefunden Erben jedoch, genauso wie für die gesamte Liste auf der väterlichen Seite, fehlen die entscheidenden Urkunden von vor den Weltkriegen.
Im Amtsgericht sendete uns nun eine neue Sachbearbeiterin – mittlerweile waren fast drei Jahre vergangen – eine aktualisierte Liste mit den nun 57 Erben und erbat Zustimmung dazu, dass das vor sich hin bröckelnde Haus verkauft werden kann. Der Nachlasspfleger, der sich um das Haus kümmert, hatte einen entsprechenden Antrag formuliert. Außerdem soll – auf Kosten aller Erben – ein weiterer Erbenermittler nach Ungarn geschickt werden, um dort in den Kirchenbüchern zu stöbern. Aus dem heutigen Serbien gebe es keine Infos, schrieb die Behörde. 1890 war die Vojvodina Teil des Kaiserreichs Österreich-Ungarns, daher sind Archive in Budapest die einzige Chance.
Erbverfahren laufen teils bis zu zehn Jahren
Nun sind mehr als vier Jahre vergangen, vor wenigen Wochen erhielt ich ein weiteres Schreiben mit der Information, das Verfahren ruhe derzeit. Ich fand heraus, dass die zuständige Sachbearbeiterin im Gericht im Urlaub ist und danach die Abteilung wechselt. Unser Erbfall wird dann noch einmal neu verteilt. Der Nachlasspfleger hatte uns bereits zu Beginn dieses Marathons erzählt, dass sich Verfahren dieser Art an den Amtsgerichten bis zu zehn Jahre hinziehen können. Dazu kommt: Sobald jemand aus der Erbengemeinschaft stirbt (etliche Erben sind zwischen 70 und 90), treten die Erben dieser Person an deren Stelle, und zwar nach deutschem Erbrecht. Und diese müssen dann auch gegebenenfalls. noch ermittelt werden.
Wir warten nun also auf die neue Sachbearbeiterin beim Amtsgericht und hoffen, dass der Hausverkauf bald voranschreitet. Hätte Alois ein Testament gemacht und darin Erben benannt, hätte es diesen ganzen langwierigen administrativen Aufwand nicht gegeben. Das Positive: Immerhin haben wir so erfahren, wer alles mit uns entfernt verwandt ist! Und wir haben viele Dinge über das deutsche Erbrecht hinzugelernt.

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